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Industrie 4.0, Teil 4: Gewaltige Herausforderungen für den Mittelstand

Wie wir in den bisherigen Beiträgen zum Thema Industrie 4.0 berichtet haben, zielen die Förderprogramme der Regierung besonders auf den deutschen Mittelstand. Auch Forschungsprojekte orientieren sich vornehmlich daran. Die Bielefelder Bundestagsabgeordnete Christina Kampmann (SPD) blieb am 17. Juli sogar lieber in Bielefeld um an einer Veranstaltung zum Thema teilzunehmen, anstatt nach Berlin zu einer wichtigen Abstimmung zur Griechenland-Krise zu fahren. Auf die Nachfrage von Andrea Rolfes von der Neuen Westfälischen sagte sie dazu: „Die Umsetzung der Industrie 4.0 kann nicht länger warten.“[1] Dieser Meinung sind ja auch führende Wirtschaftsvertreter, die den Zug schon für abgefahren halten. Und es gibt kritische Stimmen wie die von Klaus Manhart, die anmerken, dass gerade der Mittelstand noch gar nicht richtig von der Förderung profitiert habe.[2]

Christina Kampmann, (c) Christina Kampmann, Pressephoto
Christina Kampmann, MdB, (c) Christina Kampmann, Pressephoto

Hinter dem Begriff „Mittelstand“ verbergen sich kleine und mittlere Unternehmen (KMU) „aller Branchen einschließlich des Handwerks und der Freien Berufe, die eine bestimmte Größe nicht überschreiten. Hilfsweise werden zur Größenbestimmung der Jahresumsatz, die Anzahl der Arbeitsplätze und/oder die Bilanzsumme herangezogen.“[3] Der Begriff ist also in Hinblick auf die Größenbestimmung dazu, was nun zum Mittelstand gehört, immer etwas vage, aber es handelt sich um Unternehmen, die nicht auf die Investitionsmasse und Forschungs- und Entwicklungskapazitäten großer Konzerne zurück greifen können.

In seinem Artikel „Erfolg im Mittelstand mit Industrie 4.0″[4] beschreibt Bertram Geck, vor welchen Herausforderungen ein durchschnittliches mittelständisches Unternehmen steht, wenn es sich heute adäquat für Industrie 4.0 aufstellen will. Rufen wir uns die für Industrie 4.0 notwendigen Transformationen in Erinnerung:

  • Starre Produktionsanlagen für definierte Produkte sollen durch flexible Produktanlagen ersetzt werden, welche die dynamische Produktion verschiedener Produkte einer Produktreihe ermöglichen
  • Hierarchische Systeme sollen durch selbststeuernde Systeme und dynamische Modelle ersetzt werden
  • Alle Produktdaten werden analysiert und als „Product Lifecycle Management“ (PLM)-Daten ausgewertet
  • Dienstleister werden zum Bestandteil der Industriebranche und neue Geschäftsmodelle und Unternehmenstypen entstehen

Muss das ganze Unternehmen umgekrempelt werden?

Welche Vorteile das den Unternehmen bringt, haben wir bereits in unserer Themenreihe beleuchtet. Doch auf der Basis des VDE Trendreport 2015 – Schwerpunkt Industrie 4.0[5] listet Geck die Herausforderungen für die Umsetzung auf:

  • Fragen der IT-Sicherheit
  • Fehlende Normen und Standards
  • Hohe Investitionskosten und Komplexität
  • Migrationsprobleme von klassischer Industrie zu Industrie 4.0 sowie unzureichende branchenübergreifende und interdisziplinäre Zusammenarbeit
  • Fehlende Anwendungsfälle sowie Geschäftsmodelle
  • Nicht ausreichend leistungsfähige Informations- und Kommunikationsinfrastruktur

Als ob die technologischen Herausforderungen noch nicht abschreckend genug sind für große Teile des Mittelstandes, der traditionell ausgerichtet ist, kommt noch hinzu, dass das Unternehmensmodell ja auch transformiert werden muss: „Neue Geschäftsmodelle erfordern eine große Offenheit und Akzeptanz neuer Denkansätze und das Abweichen der bekannten Wege,“[4] schreibt Geck. Das fällt vielen traditionell orientierten Unternehmen nicht leicht.

Und überhaupt: Wo soll ein mittelständisches Unternehmen mit dem Umbau zu Industrie 4.0 anfangen? Muss das ganze Unternehmen umgebaut werden – und wird sich das am Ende lohnen? Denn in vielen KMUs finden sich sowohl in der IT-Architektur als auch in den Fertigungshallen viele gewachsene Legacy-Systeme und heterogene Tool-Landschaften, die ja nicht alle über Nacht ausgetauscht werden können. Sie müssen sinnvoll in ein machbares Konzept eingebunden werden.

Die Bestandsanalyse: Daten und Wissen sammeln ist ein guter Anfang

Eines dürfte zweifelsfrei klar sein: Um Prozesse aufzusetzen, die zu Industrie 4.0 führen, müssen bestehende Prozesse besser analysiert werden, Wissen gesammelt und gebündelt und dann ausgewertet werden. Zur systematischen Sammlung und Auswertung müssen laut Geck Modelle her, die drei große Bereiche abdecken und dokumentieren:

  • Prozesse etablieren, um die Abläufe zu erkennen, die man einsetzen muss. Im Fokus stehen abteilungsübergreifende Abläufe zwischen Maschinen, Mitarbeitern, Tools und Anwendungen, Partnern und Kunden
  • Enterprise Architektur (EA): Sie bildet die Zusammenhänge der Organisation, der Infrastruktur und Prozesse sowie der Ziele ab
  • Daten bilden die Grundlage des Erfolgs: Die Produktionsdaten werden zur Grundlage der Produktdaten und der Produktlebenszyklusdaten. Diese steuern letztendlich die Abläufe vor, während und nach der Fertigung. Dazu müssen sie in Echtzeit aufgenommen und verarbeitet werden

Geck zitiert dazu Jürgen Leuschel, den Geschäftsführer der MID GmbH aus Nürnberg, einem Spezialisten für Lösungen zur Modellierung von Geschäftsprozessen, Software Datenbanken, der eine typische und bewährte Vorgehensweise empfiehlt: Zunächst eine gründliche Bestandsaufnahme (EA, Geschäftsprozesse, Workflows, Datenmanagement) durchführen, darauf aufbauend die Strategie, die Ziele, den Businessplan und die Maßnahmen definieren.

Klein anfangen – aber anfangen!

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Prozesse optimieren, (c) Fotolia_71188576_XS

Einen zögerlichen Mittelständler überzeugt man am besten mit einer pragmatischen Herangehensweise und einem überschaubaren Projekt, um dem großen Ziel, der Smart Factory, näher zu kommen. Geck empfiehlt, ein mögliches Pilotprojekt mit überschaubaren Investitionen zu definieren, zum Beispiel die vorbeugende Wartung und Instandhaltung von Fertigungssystemen (Predictive Maintenance), die Installation von Defect-Trackingsystemen zur Fehlererkennung und –verfolgung oder die Werkstückverfolgung, um jederzeit definieren zu können, wann sich welches Werkstück genau wo befindet. Projekte dieser Art krempeln nicht gleich die ganze Firma um und führen zu Produktionssteigerung und Kostensenkung.

Man kann sich gut vorstellen, dass solche Projekte nach und nach zum Umbau eines mittelständischen Unternehmens führen und es zur Smart Factory heran reifen lassen, in der alle unternehmenswichtigen Prozesse vernetzt sind.

Klar ist aber auch: Gerade mittelständische Unternehmen können es sich nicht leisten, aufs falsche Pferd zu setzen. Denn letztendlich soll sich die anvisierte Smart Factory ja mit anderen Smart Factories vernetzen, mit Partnern und Kunden. Und dazu bedarf es nicht zuletzt der immer wieder angemahnten Standards, die diese unternehmensübergreifende Vision möglich machen sollen. Daher ist es sinnvoll, mit Projekten zu beginnen, die in dieser Hinsicht größtmögliche Investitionssicherheit versprechen. Denn auch das ist klar: Wer heute nicht anfängt, wird abgehängt.

Weitere Artikel zum Thema Industrie 4.0

[1] A. Rolfes, “Industrie 4.0 statt Griechenland-Abstimmung,” Neue Westfälische, Bielefeld, 17-Jul-2015.

[2] K. Manhart, “Industrie 4.0 – Die nächste Revolution? – Potenzial für den Mittelstand | TecChannel.de.” [Online]. Available: http://www.tecchannel.de/it-strategie/2077662/industrie_40_die_naechste_revolution/?tap=b575ad5586abc2f57de56a77cb990a06&r=6647622139633060&lid=422390&pm_ln=49. [Accessed: 29-Jun-2015].

[3] “Mittelstand,” Wikipedia, 24-Jun-2015. [Online]. Available: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Mittelstand&oldid=143396000. [Accessed: 20-Aug-2015].

[4] B. Geck, “Erfolg im Mittelstand mit Industrie 4.0 – Prozessdigitalisierung | TecChannel.de.” [Online]. Available: http://www.tecchannel.de/it-strategie/3199842/erfolg_im_mittelstand_mit_industrie_40/?tap=b575ad5586abc2f57de56a77cb990a06&r=6647622139633060&lid=422390&pm_ln=45. [Accessed: 29-Jun-2015].

[5] “Autonomik4 – Ministerium › VDE-Trendreport 2015: Schwerpunkt Industrie 4.0,” 04-May-2015. [Online]. Available: http://www.autonomik4.de/2313.php. [Accessed: 20-Aug-2015].

 

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Bereits seit 2000 ist die ausgebildete PR-Referentin und freiberufliche PR-Beraterin Margarete Keulen in der ITK-Branche tätig und berät verschiedene Unternehmen in der IT, Telekommunikation und Industrie – von kleinen Unternehmen und Hidden Champions bis hin zu Global Playern. Im August 2005 kam sie als Marketing Communications Manager zur Bielefelder SEH Computertechnik GmbH, einem Spezialisten für Netzwerkdruck und USB-to-Network-Lösungen. Sie hat zahlreiche Fachartikel in IT-Medien veröffentlicht und liebt die Herausforderung, komplexe technische Sachverhalte und Themen verständlich und übersichtlich zu kommunizieren.

2 Responses

  1. Reinhold Clausjürgens
    |

    In dem Beitrag „Industrie 4.0: Deutscher Mittelstand hinkt noch hinterher“ beschäftigt sich auch die IX-Online mit dem Thema:

    http://www.heise.de/ix/meldung/Industrie-4-0-Deutscher-Mittelstand-hinkt-noch-hinterher-2804885.html