Nach über zwei Jahren intensiver Vorbereitung ging der 9. IHK Außenwirtschaftstag NRW professionell organisiert und charmant von Claudia Kleinert moderiert am 29. September über die Bühne. Das Motto der Veranstaltung in der Stadthalle Bielefeld – „Unternehmen in bewegten Zeiten“ – war hochaktuell und hatte zuletzt durch den anstehenden „Brexit“ weitere Brisanz bekommen. Mit 1.000 Teilnehmern war die Veranstaltung denn auch ausgebucht, was in den weitläufigen Räumlichkeiten der Stadthalle jedoch nie zu Gedränge oder Platzmangel führte.
An den Ständen der 70 Aussteller, den langen Tischen des großen Saals in der ersten Etage, in den die Dialogrunde und die Rede von Joschka Fischer über Großbildschirm übertragen wurden, sowie an den Catering- und Kaffeeständen bestand Gelegenheit zum Networking. An die 600 Einzelgespräche hatten die Teilnehmer mit den anwesenden 70 Außenhandelskammern vereinbart und auch die Gesprächsrunden und Talk-Panels boten Gelegenheit zu Information und Diskussion.
Wachstum ohne Alternative?
Im von Claudia Kleinert moderierten Dialog zum Thema „Unternehmen erfolgreich durch bewegte Zeiten steuern“ disktutierten Dr. Reinhold Festge, persönlich haftender Gesellschafter Haver & Boecker OHG und Präsident des VDMA, Ralf Kersting, geschäftsführender Gesellschafter Olsberg GmbH und Präsident IHK NRW und Dr. Markus Miele, geschäftsführender Gesellschafter Miele & Cie. KG und Vizepräsident IHK Ostwestfalen, über Erfahrungen mit Auslandshandel und Wachstumsmöglichkeiten in diesen global unruhigen Zeiten bei dramatisch schrumpfenden Ressourcen, bis Dr. August Oetker, Vorsitzender des Beirats Dr. August Oetker KG und Vizepräsident IHK Ostwestfalen, in die Runde warf, dass Wachstum auf Dauer nicht allein selig mache und über Alternativen nachgedacht werden müsse. Man könne auch mit weniger auskommen, Glück sei schließlich auch wichtig – eine deutliche Anspielung auf den Himalaya-Staat Bhutan, in dem das Recht auf Glück in der Verfassung verankert ist und das Wachstum der Wirtschaft nachrangig behandelt wird. Dafür erntete Oetker deutlichen Applaus, obwohl, wie Stefan Schelp im Kommentar in der Neuen Westfälischen[1] erstaunt anmerkt, der Oetker-Konzern sich erst kürzlich zum Ziel gesetzt habe, seinen Umsatz in den kommenden zehn Jahren zu verdoppeln. Eine Diskussion zu konkreten Ideen dazu kam leider nicht mehr zustande, doch schien der Gedanke den Anwesenden durchaus einleuchtend.
Joschka Fischers Plädoyer für Deutschlands Westanbindung und ein starkes Europa
Im gleichen NW-Kommentar konnte sich Stefan Schelp nicht verkneifen, hervorzuheben, dass die ostwestfälisch-lippische Unternehmerschaft mit Joschka Fischer, Außenminister a.D., ausgerechnet eine Gallionsfigur der Grünen als Redner geladen hatte. Fischer begann mit einem Rückblick auf die deutsche Geschichte, die vor der Westanbindung 1945 von Kriegen und politischen Unruhen gezeichnet war. Erst die klare Verortung in Westeuropa habe Deutschland Stabilität und Ansehen in der Welt gebracht – das sollten wir angesichts politischer Strömungen, die anti-europäisches und „völkisches“ Gedankengut propagierten, nicht vergessen. Ein starkes Europa sei angesichts der zukünftigen geopolitischen Veränderungen überlebenswichtig. Fischer sieht voraus, dass die USA künftig nicht mehr die Rolle des Weltpolizisten und globalen Friedensstifters spielen wolle und könne, weder in Nahost noch sonst irgendwo. Gleichzeitig rückten die kriegerischen Auseinandersetzungen in Nahost gerade näher an Europa heran – Stichwort „Flüchtlingskrise“ – und erinnerten uns daran, dass der Nahe Osten bei uns so heiße, weil er eben nah sei, im Gegensatz zur falschen Übersetzung des englischen Begriffs „Middle East“ als mittlerer Osten. Gerade die Flüchtlingskrise zeige, so Fischer, dass Europa hier zusammen arbeiten müsse und wenn er in dieser Sache überhaupt Kritik an Angela Merkels Politik habe, dann nur, dass viel früher gemeinsame Lösungen unter Einschluss der für Europa überaus wichtigen Türkei zu finden gewesen wären.
Laut Fischer wird schon heute die Weltpolitik nicht mehr von den G8 bestimmt, geschweige denn von den G20 – viel zu kompliziert. Die heute schon Asien dominierende Großmacht China werde künftig gemeinsam mit den USA als G2 fungieren und hoffentlich würden diese beiden ihre Interessen friedlich verhandeln. Allerdings wird Europa bei dieser Konstellation auf sich gestellt sein – die USA würden europäische Anliegen nicht mehr regeln: „Wenn Europa das nicht selbst tut, dann wird es niemand tun,“ so Fischer. Und er machte deutlich, dass die Unternehmerschaft sich gründlich täuschen würde, wenn sie annähme, dass Wirtschaft und Handel von diesem geopolitischen Wandel unberührt blieben. Das Gegenteil wäre der Fall.
So gesehen ist das Thema seiner Rede, „Scheitert Europa?“, eine Schicksalsfrage. Der „Brexit“ ist für Europa ein harter, aber zu verkraftender Schlag. Anders würde es aussehen, wenn auch Frankreich im Falle eines Sieges von Marine Le Pen die europäische Union verlassen würde. Das würde sie wahrscheinlich nicht mehr überleben. Fischer wagt über den Ausgang der französischen wie auch der US-amerikanischen Wahlen keine Voraussage – schließlich habe auch niemand bis zum Tag der Abstimmung den „Brexit“ für möglich gehalten – aber er sei doch hoffnungsvoll, dass die Antwort auf die Frage ein optimistisches „Nein“ sei.
Großer Zulauf beim Thema USA und Außenhandelstöchter
Fischers starkes Plädoyer für ein starkes Europa hin oder her – zur Zeit ist wieder die USA der stärkste Handelspartner Deutschlands, worüber der Botschafter der Vereinigten Staaten in Deutschland, S.E. John B. Emerson, referierte. Bei den Talk-Panels lag das Thema USA bei den Teilnehmenden allerdings erst an zweiter Stelle, getoppt vom Panel zur Gründung und Steuerung von Auslandstöchtern. Das hatte selbst die Organisatoren überrascht, doch sie reagierten souverän mit der Verlegung dieses Panels in den größten Vortragssaal. Dort berichteten Horst Meyer, geschäftsführender Gesellschafter A & H Leuchten und Büroelektrik, Dörentrup und Gerald Thier-Jörg, Leiter Finanzen und Controlling, Prokurist Jowat SE, Detmold, von sehr unterschiedlichen Erfahrungen, die sie als relativ kleines Unternehmen einerseits und als großer Konzern mit über zehn Auslandstöchtern andererseits machten. Unterschiedlich gehandhabt wird beispielsweise die Standardisierung der IT: Während zum Management so vieler Auslandstöchter bei Jowat einheitliche Standards notwendig sind, lohnt sich dies für die kleinere A & H einfach nicht, weil die Kosten viel zu hoch sind.
Viele Fragen aus dem Publikum unterstrichen das große Interesse an diesem Thema, wobei besonders die Themen der rechtlichen Absicherung der ausländischen CEOs und die Gestaltung der Transferpreise im Mittelpunkt standen. Außerdem plauderten sowohl Meyer als auch Thier-Jörg ein wenig aus dem Nähkästchen, als sie nach Fehlern gefragt wurden, die sie besser vermieden hätten, und berichteten von der Unterstützung der Auslands-IHKs.
Allgegenwärtig: Das Thema „Digitalisierung“
Im Talk-Panel „Digitalisierung trifft Internationalisierung“ zeigte sich anhand der Fragen aus dem Publikum, dass „Internationalisierung“ für viele noch in der Zukunft liegt, weil sie überhaupt erst eine Digitalisierungsstrategie für ihr eigenes Unternehmen entwickeln müssen. Über Sinn und Zweck von ERP-Systemen zu reden, merkte ein Diskussionsteilnehmer an, sei angesichts der heutigen Lage nicht brandaktuell, die gebe es schließlich schon seit 30 Jahren. Aber Orientierung und ein Schritt-für-Schritt-System sei am besten – allerdings sollte vorher die strategische Marschrichtung gründlich durchdacht worden sein. Wie Michael Pachmajer, Director Digital Transformation PriceWaterhouseCoopers AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft und Co-Autor von „d.quarks – Der Weg zum digitalen Unternehmen“ feststellt: „Digitalisierung beginnt in den Köpfen.“
Staffelübergabe bei Currywurst
Das volle Programm endete wie geplant gegen 17 Uhr mit einer kleinen Stärkung bei Brezel, Currywurst und Bier im Foyer der Stadthalle, damit sich die Teilnehmer vor ihrer Abreise noch einmal stärken konnten. Nicht wenige nutzten die Chance, ein Foto von Claudia Kleinert zu machen, bevor sie die Staffelübergabe an den Ausrichter des 10. IHK Außenwirtschaftstags NRW moderierte. Dieser wird in zwei Jahren in Aachen ausgerichtet.
Alle Bilder: ©ITK-OWL 2016
[1] NW, 1./2. Oktober 2016, Kommentare – Stefan Schelf: Wirtschaft in OWL, Richtig wachsen.
Margarete Keulen
Der 10. IHK-Außenwirtschaftstag NRW findet am 20. September 2018 in Aachen statt – Ansprechpartnerin: Claudia Masbach, Tel. 0241 4460-296.